Herr Melin - Anthropomorphismus in der Illustration
Herr Merlin
Aus dem Newsletterarchiv 2025 Ausgabe Februar | 05
Jedes Mal, wenn ich ein neues Projekt beginne, bei dem der Hauptcharakter ein Tier ist, frage ich mich, wie stark ich diesen Charakter vermenschlichen möchte. Tiere in Kinderbüchern sind ja immer in gewisser Weise vermenschlicht – ein Prozess, der als Anthropomorphismus bezeichnet wird. Dabei geht es nicht nur um die spannende literarische Frage, wie viel Menschlichkeit man einem Tiercharakter zugestehen möchte, sondern auch um die Ebene der Illustration: Wie soll ein Tier in Bildern dargestellt werden?
Die Gestaltung bewegt sich auf einem visuellen Spektrum – von fast realistisch bis stark abstrahiert und menschenähnlich. Es gibt dabei kein Richtig oder Falsch, aber ich wünsche mir bei jedem Projekt eine klare Tendenz. Immer wieder stehe ich vor der Entscheidung, wie stark ich abstrahieren oder anthropomorphisieren möchte, und manchmal bin ich außerstande, diese Entscheidung zu treffen. Ich verliere mich im Hin und Her.
Vor einiger Zeit habe ich euch auf Instagram an diesem Dilemma teilhaben lassen und war gespannt auf eure Meinungen. Während ich eure Nachrichten und Antworten las, wurde mir bewusst, dass ich oft Dinge voraussetze, die für mich als Illustratorin selbstverständlich sind, für euch als Betrachtende und Lesende aber vielleicht gar nicht so greifbar oder relevant erscheinen.
Das hat mich auf die Idee gebracht, das Thema in meinem Newsletter aufzugreifen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen: Warum wählen wir überhaupt Tiercharaktere, und wie weit sollten wir bei ihrer Vermenschlichung gehen?
Zufällig begegneten Patrick und ich während eines Spaziergangs einem weißen Hermelin. Ich hatte zuvor noch nie eines in freier Wildbahn gesehen. Später, als wir den Kindern davon erzählten, wurde aus einem Missverständnis im Spaß „Herr Merlin“. Dieses Wortspiel fand ich so charmant, dass ich beschloss, Herr Merlin im Newsletter aufzugreifen.
Warum Tiercharaktere in Geschichten so beliebt sind
Tiercharaktere sind in Kinderbuchgeschichten besonders beliebt, weil sie viele stilistische und kommunikative Herausforderungen elegant lösen können. Zum einen bieten Tiere von Natur aus mehr Vielfalt: Fragen nach Geschlecht, Herkunft, Alter, Religion oder sozialem Status spielen bei ihnen keine zentrale Rolle, da diese Kategorien auf Tiere nicht in gleicher Weise angewendet werden wie auf Menschen. Eine Maus zum Beispiel wird anders wahrgenommen als ein menschliches Kind – sie trägt weniger gesellschaftliche Vorurteile oder Zuschreibungen mit sich. Dadurch eröffnen Tiercharaktere eine neutralere und oft universellere Bühne, die es Kindern erleichtert, sich unabhängig von ihrer eigenen Identität mit den Figuren zu identifizieren.
Tiercharaktere in Kinderbüchern genießen oft Freiheiten, die menschlichen Kindern in unserer modernen Gesellschaft nicht mehr zugestanden werden. Studien zeigen, dass der Bewegungsradius von Kindern heute meist auf das elterliche Wohnumfeld beschränkt ist. Eltern sind vorsichtiger geworden, und Geschichten, in denen ein Kind allein durch die Welt streift – ähnlich wie Alice im Wunderland – können bei ihnen Unbehagen auslösen. Dies könnte dazu führen, dass solche Bücher im Laufe der Zeit weniger beliebt sind.
Man könnte auch argumentieren, dass Eltern und Kinder Vorbilder brauchen und Bücher ein ideales Medium sind, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Doch oft fehlt der Mut – und auch die finanziellen Mittel –, um progressive Ansätze in Kinderbüchern umzusetzen. Die Kinderbuchbranche ist keine finanzstarke Branche, und Risiken werden nur selten eingegangen. Daher folgen auf ein trendiges Thema oft zehn weitere Bücher mit ähnlichem Inhalt. Diese sicheren Verkaufsschlager ermöglichen es Verlagen, gelegentlich ein progressives Risiko einzugehen, leider seltener.
Um solche Risiken zu umgehen, lassen sich waghalsige Unternehmungen in Kinderbüchern eher von Tieren als von Kindern erleben. Wenn eine Maus (wie im „Grüffelo“) allein im Wald unterwegs ist, stört das weniger und erlaubt eine andere Erzählperspektive.
Es gibt aber noch viele weitere Gründe, Tiercharaktere einzusetzen. Unsere kulturelle Bildung lehrt uns eine visuelle Kommunikation: Rote Herzen stehen für Liebe und Zuneigung, Grün kann für Gift oder Neid, aber auch für Natur und Umwelt stehen. Wir lernen, dass Hexen große Nasen haben, Eulen weise, Füchse schlau, Ratten hinterlistig und Krähen mystisch sind. Natürlich sind das alles Projektionen – Anthropomorphismus, der oft in Klischees, Stigmata oder Kitsch mündet, aber auch ein bewusstes Spiel damit erlaubt.
So kann eine Eule plötzlich tollpatschig statt weise sein, oder eine Krähe wird niedlich und liebenswert statt mystisch und düster. Dieses Spiel mit Erwartungen und deren plötzlicher Bruch schafft eine zusätzliche Erzählebene, die besonders für Kinder reizvoll sein kann.
Ihr seht, es gibt durchaus viele gute Gründe, Geschichten mit Tiercharakteren zu erzählen. Natürlich ließen sich ebenso viele Gegenargumente finden – auf diese möchte ich allerdings in einem anderen Beitrag zu gegebener Zeit eingehen.
Heute konzentrieren wir uns auf die Vorteile tierischer Figuren. Wir wissen nun, warum sie so beliebt sind und welche positiven Aspekte sie mitbringen. Doch damit stellt sich die nächste Frage:
Wie stark sollten wir Tiere vermenschlichen?
Wie weit lässt sich ein Tier anthropomorphisieren, ohne dass die genannten Vorteile verloren gehen? Wie bleibt es für Kinder und Eltern glaubwürdig und sympathisch, ohne plötzlich zu stark als „Mensch im Tierkostüm“ wahrgenommen zu werden? An welchem Punkt schlägt der Charakter um und verliert seine tierische Identität, bis er sich mehr wie ein verkleidetes Kind anfühlt – ein Mensch mit Hasenohren, statt ein echtes Kaninchen?
Hier liegt die Grenze, die wir als Illustrator:innen und Geschichtenerzähler:innen sensibel austarieren müssen. Denn eins ist klar: Sobald wir Tieren menschliche Züge zuschreiben, projizieren wir unweigerlich unsere eigene Sichtweise auf sie. Wir können nicht wirklich wissen, was Tiere denken oder fühlen – unsere Vorstellung von ihnen ist immer durch unsere menschliche Perspektive gefärbt. Diese Projektion liegt in unserer Natur, weil wir die Welt durch unsere eigene Brille betrachten. Doch genau das birgt auch Gefahren, Tiere zu stark zu vermenschlichen und sie ihrer tierischen Identität zu berauben.
Tiere verlieren ihren positiven Effekt, wenn sie zu sehr ins Menschliche abgleiten. Plötzlich wirken sie nicht mehr neutral, sondern wie übermenschliche Wesen oder gar gruselig (Fabelwesen). Diese Überhöhung kann die emotionale Nähe, die Tiercharaktere schaffen sollen, ins Gegenteil verkehren und die Identifikation erschweren.
Genau deshalb ist es so wichtig, die Balance zu halten. Tiere dürfen menschliche Züge und Gefühle haben, aber sie sollten immer Tiere bleiben – mit all ihrer Natürlichkeit, ihrem Instinkt und ihrer eigenen Art, die Welt zu sehen. Denn gerade diese Eigenschaften machen sie so zugänglich und universell, sowohl für Kinder als auch für Erwachsene.
Anthropomorphismus ist ein kraftvolles Werkzeug, doch wie bei jedem Werkzeug ist es entscheidend, es mit Fingerspitzengefühl einzusetzen. Ein Tier sollte niemals seine Seele verlieren, um ein Mensch zu werden. Denn nur dann behalten Geschichten mit tierischen Hauptfiguren ihre Magie, ihren Reiz und die Kraft, uns in eine andere, oft so viel freiere Welt zu entführen.
Was denkt ihr: Wie weit darf man bei der Vermenschlichung von Tieren gehen, ohne dass sie ihre Faszination verlieren? Ich freue mich darauf, eure Gedanken zu lesen!