Die Geschichte des Porträts an der Wand

Die Geschichte des Porträts an der Wand

Aus dem Newsletterarchiv November | 02

Wenn ich an meine frühen 20er zurückdenke, überwiegt das Gefühl von Verlorenheit und Einsamkeit. Es gab jedoch einzelne Momente, die wie kleine Goldklumpen des Glücks im sonst grauen Kiesbett der Tristesse funkelten.

Einer dieser goldenen Momente war eine Arbeitsreise mit meiner Tante und ihrer dreijährigen Tochter nach Erlangen. Meine Tante betreibt eine Vintage-Halle und führt Haushaltsauflösungen durch. Während meiner Zeit als Studentin jobbte ich gerne bei ihr. Es war immer aufregend, und das Sortieren der alten Sachen sowie das Aufräumen der verschiedenen Leben bot ein Stück weit Eskapismus.

Wie sie an das Haus in Erlangen kam, weiß ich gar nicht mehr so genau. Ich glaube, ich war damals einfach froh über die Reise und die Aussicht auf mindestens drei Tage bezahlte Arbeit, sodass ich ihr nicht wirklich zuhörte, als sie den Auftrag beschrieb. Es muss so gewesen sein, denn die Überraschung war groß, als wir ankamen.

Wir fuhren mit dem Transporter und noch zwei weiteren Helfern Richtung Erlangen. Irgendwann wurden die Straßen auf unserem Weg immer entlegener und führten uns durch ein Wäldchen. Die Feuchtigkeit hing als trüber Nebel zwischen den Bäumen und fiel in dicken Tropfen von den Ästen auf uns herab, als wir aus dem Auto stiegen. Vor uns erhob sich ein riesiges Haus mitten im Wald. (Rückblickend würde ich es eher als Jagdschloss einordnen.) Auch das Haus wirkte schon von außen klamm und feucht und verstärkte diesen Eindruck im Inneren.

Vor langer, langer Zeit muss es prächtig gewesen sein: Verzierungen und Stuck an den Wänden, dicke Eichendielen auf dem Boden. Es war geschmackvoll gestrichen, zumindest dort, wo der Putz noch an den Wänden haftete. Der Rest des Hauses war vermüllt. Noch nie zuvor hatte ich ein Messie-Haus betreten. Nun ein Messie-Schloss zu betreten, machte mich sprachlos. Kniehoch stapelten sich Plastikflaschen, Papier und Gerümpel.

Mit 104 Jahren starb die Besitzerin des Hauses, und einer ihrer Söhne lebte nach ihrem Tod noch zwei Jahre allein in dem Haus, bis es nicht mehr ging. Seine Messie-Störung war so ausufernd geworden, dass Ungeziefer in allen Winkeln lebte und das Haus von innen heraus auffraß.

Nun war es verkauft, zumindest das Grundstück. Denn das Gebäude sollte abgerissen werden. Trotzdem bat uns die Familie, nach intakten Möbeln und Gegenständen in dem Haus zu suchen, sie zu Geld zu machen und den Rest zu entsorgen.

„Besser wir fangen in den Räumen an, die wir nutzen müssen, in den Tagen, die wir hier sind. Vielleicht die Küche, das Bad und die Schlafzimmer“, sagte meine Tante. Das Bad war einfach. Wir packten dort alles in den Müll, da es komplett durchgeschimmelt war. Schwieriger waren die anderen Räume. Der Müll war teilweise kniehoch, und wir kamen nur langsam voran.

Wir würden Tage brauchen. Und tatsächlich brauchten wir Tage. Doch entgegen dem ersten Eindruck und dem Ekel war ich bei der Abreise fast etwas traurig, wieder zu gehen.

Als der erste grobe Müll beseitigt war, entdeckten wir nach und nach die Schätze des Hauses: große Holzkisten mit Gemälden, Briefen, Skizzen. Alle aus dem 19. Jahrhundert. Die Bibliothek war bis an die Decke gefüllt mit den schönsten Büchern, leider waren fast alle von Mäusen zerfressen.

Wer die Familie war, die gegen Ende in dem Haus wohnte, weiß ich nicht genau. Ob die Schätze, die wir dort fanden, Teil ihrer Familie waren oder ob sie die Sachen im Krieg lediglich aufbewahrt hatten, ist mir ebenso unklar.

Was wir aber fanden, waren die Besitztümer und Einblicke in das Leben von Frank Rochussen, einem Leipziger Chemiker, der in England geboren wurde und in Erlangen gestorben ist.

Am Abend räumte ich mir eines der zahlreichen Schlafzimmer frei. Zumindest soweit, dass die Isomatte Platz finden konnte und ich mit ihr. In der Nacht hörte ich die Mäuse in den Wänden und unter meinen Ohren in ihren Gängen im Boden. Ab 4 Uhr morgens gab ich es auf, der Schlaf wollte nicht so richtig kommen, und die Arbeit war so umfangreich, dass es nicht schaden konnte, schon etwas zu räumen. Ich zog mich an und suchte den Weg in die Küche, um mir einen ersten Kaffee zu kochen. Da fand ich sie. Sie sah mich an mit ihrem wachen Blick, und ich erkannte mich ein Stück weit in ihr.

Es war das Gemälde einer Dame mit Büchern. Auch die Bücher fand ich später noch dazu.

Beides nahm ich mit zu mir. Meine Tante überließ es mir großzügig, und ich bin ihr dankbar dafür. Jedes Jahr bekomme ich seitdem eine Kleinigkeit aus dem Haus in Erlangen von meiner Tante zum Geburtstag und freue mich sehr über die Erinnerungsstücke an diese arbeitsreichen Tage vor zehn Jahren.

Es kam noch zu vielen seltsamen Begegnungen in jener Woche. Immer wieder tauchten Menschen auf, die irgendwie mit dem Haus und der Familie bekannt waren. Der einer plünderte Container, und andere versuchten verzweifelt, Wertsachen zwischen all dem Müll und vor uns zu finden. Es war skurril und aufregend.

Die Frau auf dem Bild könnte Adele Rochussen sein, die Mutter des Chemikers, oder es ist die Großmutter unbekannten Namens, da die Frau auch etwas älter aussieht. Neben dem Porträt fanden wir auch ein Skizzenbuch von Theodoor Antonie Rochussen (1824–1880), dem Vater von Frank Rochussen, was darauf schließen lässt, dass Antonie zeichnete und malte und somit auch der Schöpfer des Gemäldes sein könnte. Der Rahmen des Bildes ist auf 1870 datiert, also vor der Geburt von Frank Rochussen. Das Skizzenbuch stammt aus den 1860er Jahren.