Knuspern, Knuspern, Knäuschen...
Märchen
Aus dem Newsletterarchiv 2025 Ausgabe April | 07
Es ist schon April – und doch erst April. Dieses Jahr fühlt sich an, als hätte es für eine Dekade gereicht, und es ist kaum zu fassen, dass wir noch immer im ersten Drittel stehen. Gleichzeitig vergeht der Alltag im Flug – und plötzlich ist der April wieder da.
Nun spüre ich den Frühling selbst in den schattigsten Ecken des Lebens. Der Winter versickert zwischen den ersten Knospen und dem zaghaften Versprechen des Sommers. Endlich April!
Der Winter hat mich erschöpft – die Kälte, die Krankheiten, die Krisen. All das hat an meinen Kräften gezehrt. Ich sehne mich nach Ausgleich und Freundschaft – ebenso wie nach dem Frühling. Früher fand ich diesen Ausgleich oft in den sozialen Medien: den Austausch, die Vielfalt an Themen. Doch in letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass sich dort vor allem das Negative summiert. Statt Verbindung spüre ich Distanz, statt Inspiration oft Überforderung. Was ich wirklich brauche, ist echte Verbundenheit.
Doch ich hadere oft damit, Menschen und Gesagtes richtig einzuordnen. Worte hallen in mir nach, lange nachdem sie gesprochen wurden. Ich zerdenke sie, fürchte, etwas falsch zu verstehen – und ziehe mich zurück. Doch ich weiß, dass das kein Weg ist. Dass es mich nicht weiterbringt. Und das wurde mir in diesem Monat erneut bewusst.
Der Monat war voll und quirlig. Gerade arbeite ich an mehreren Projekten gleichzeitig – etwas, das mir sonst selten passiert. Doch diesmal hat es sich so ergeben, und ich bin wirklich dankbar für die Arbeit. Es tut gut, die Existenzängste eine Weile in den Hintergrund treten zu lassen. Gleichzeitig kostet es Kraft, denn alles unter einen Hut zu bekommen, scheint oft unmöglich. Und obwohl ich manchmal einfach eine Pause brauche, um allein mit meinen Gedanken zu sein, trete ich aus meinem gewohnten Muster heraus, treffe Freundinnen – und hoffe, auch dort Erholung zu finden.
So ist der Monat vergangen, und eigentlich wollte ich einen Text über Farben schreiben. Ich habe ihn sogar begonnen, er ist schon recht weit. Kurz war ich versucht, ihn einfach als Newsletter rauszuschicken. Doch wenn ich ehrlich bin, braucht das Thema noch mehr Tiefe. Noch mehr Differenzierung. Und so ist der Text – genau wie der letzte Monat – unausgegoren.
Am 22. März war ich in der Buchhandlung Buchland in Bad Wildungen zu einer Signierstunde. Wenn ihr das hier lest, liegt sie bereits hinter mir – während ich es schreibe, freue ich mich noch darauf. Besonders schätze ich die Gespräche mit den Buchhändler:innen vor Ort, und in letzter Zeit drehen sich viele davon um Märchen.
Wie einige von euch wissen, bin ich in einem märchenaffinen Haushalt aufgewachsen. Die Frauen in meiner Familie hatten ein besonderes Talent fürs Erzählen. Sie verstellten ihre Stimmen, hielten sich kompromisslos an den Spannungsbogen – und zögerten nicht, wenn es um die Abgründe des Menschseins ging, um Ängste und das Böse.
Auf dem Heimweg vom Kindergarten bat ich meine Mutter manchmal, einen Umweg durch die verwinkelten Gassen der Altstadt zu nehmen. Ich war das glücklichste Kind, wenn wir dann die schiefen, steilen Treppen zwischen den engen Häusern wählten und sie mir von der kleinen Tür erzählte, die einst zu einem Hexenhaus gehört haben soll. Oder wenn sie sagte, der alte Brunnen sei wohl der aus dem Märchen vom Froschkönig.
Ich glaubte ihr jedes Wort!
Aber – und das möchte ich betonen – ich bin nicht in einer besonders diversen oder offenen Umgebung aufgewachsen, die frei von Vorurteilen und voller Rücksichtnahme war. Zwar lebte ich in einem Umfeld, das Menschen unterschiedlichster Herkunft (durch Adoption), Hautfarbe, sozialer Schichten und mit Behinderungen einbezog, doch fühlte es sich oft wie eine Parallelgesellschaft an. Meine Familie stand Medizin und Wissenschaft eher kritisch gegenüber. Ich besuchte eine Waldorfschule, und eine diskriminierungssensible Erziehung oder Sozialisation gehörte nicht zu den Schwerpunkten meiner Kindheit.
Deshalb kann ich heute zwar sagen: Ich liebte Märchen. Aber ich musste mich lange und intensiv mit ihnen auseinandersetzen, um sie aus einer differenzierteren Perspektive zu betrachten – denn in meinem Umfeld fand diese Auseinandersetzung damals nicht statt.
Werte, Sprache und gesellschaftliches Selbstverständnis
Märchen sind ein altes Kulturgut und finden sich – in Form von Büchern, Bildern, Aufdrucken oder Spielzeug – in fast jedem Kinderzimmer. Doch die Kritik an ihnen ist ebenso umfangreich wie berechtigt. Ursprünglich waren Märchen keine Kindergeschichten, sondern Erzählungen für Erwachsene. Sie waren stark symbolhaft – wenn wir heute vom „Bösen im Märchen“ sprechen, klingt das eindeutig, doch oft stand das Böse metaphorisch für die Ängste und Sorgen der Menschen. Märchen sind fest in den gesellschaftlichen Vorstellungen ihrer Entstehungszeit verankert. Dennoch müssen wir sie zwangsläufig aus diesem Kontext herauslösen, denn die Welt, in der wir heute leben, ist eine andere.
Werte, Sprache und gesellschaftliches Selbstverständnis haben sich verändert. Viele Errungenschaften der modernen Gesellschaft reichen kaum weiter als bis ins 19. Jahrhundert zurück – eine Zeit des Wandels, geprägt von Revolutionen, dem Aufkommen von Nationalstaaten und der Industrialisierung. Viele der Grundordnungen, die wir heute als selbstverständlich ansehen, wurden erst damals geschaffen. Märchen aber sind oft noch viel älter und stammen aus Gesellschaftsstrukturen und Kulturen, die uns inzwischen fern sind.
Kritik an Rollenbildern in Märchen
Immer wieder wird die Darstellung von Geschlechterrollen in Märchen kritisiert. Stevie Schmiedel, Genderforscherin und Gründerin der Organisation Pinkstinks e.V., setzt sich in ihrem Buch Pink für alle kritisch mit diesem Thema auseinander. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur argumentiert sie, dass Märchen tradierte Rollenbilder festigen und daher nicht unkommentiert an Kinder weitergegeben werden sollten:
„Vielleicht sollte man Märchen in der fünften oder sechsten Klasse anbieten, aber dann mit ausführlicher Besprechung. Man könnte Hexenverbrennung, man könnte die Geschichte Deutschlands, auch die deutsche Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts kann man besprechen an den Märchen. Aber auf keinen Fall sollten Märchen einfach so konsumiert werden. Denn die Märchen zementieren Geschlechterrollen, die wir doch längst überwunden haben wollten. Und wenn man sie einfach so hört, dann bestätigen sie die Geschlechterrollen, die wir noch haben und gegen die wir doch kämpfen und die wir gern abschaffen wollen. Und ich weiß, dass ich mit dieser Meinung viele Hörerinnen und Hörer vielleicht nicht glücklich mache. Denn Märchen sind sehr beliebt, wir hören sie sehr früh schon, sie erinnern uns an unsere Kindheit, an unsere Eltern und Großeltern, und es ist schwer, gegen Märchen vorzugehen und sie zu kritisieren. Aber das sollten wir doch heute tun.“
Diese Kritik trifft vor allem auf Leitmärchen zu – also jene bekannten Märchen, insbesondere die der Brüder Grimm, die medial besonders oft aufgegriffen wurden. Ich selbst bin mit einer umfangreichen Märchensammlung aus aller Welt aufgewachsen, in der die Rollenbilder weitaus vielfältiger waren. Deshalb fiel es mir zunächst schwer, die Kritik an „den Märchen“ allgemein nachzuvollziehen. Vielmehr sehe ich das Problem in der gesellschaftlichen und medialen Auswahl der Märchen, die weitergegeben und verfilmt wurden. Tatsächlich sind Märchenfiguren vielschichtiger, teilweise sogar geschlechtsfluid.
Märchen und ihre Instrumentalisierung
Ein weiterer Aspekt, den man in der Märchenkritik berücksichtigen muss, ist die gezielte politische Instrumentalisierung. Der Nationalsozialismus nutzte Märchen zur Manipulation und Propaganda. Oliver Geister, Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaft, beschreibt, wie die Nazis Märchen bewusst umdeuteten und teilweise umschrieben. Ein Beispiel ist Rumpelstilzchen: Die Figur wurde mit antisemitischen Stereotypen versehen, während ihr eine blonde, blauäugige Müllerstochter gegenübergestellt wurde.
Märchen sind vieldeutig und lassen zahlreiche Interpretationen zu – genau das machte sie anfällig für politische Vereinnahmung. Das einfache Gut-Böse-Schema ließ sich leicht auf Freund-Feind-Denken übertragen.
Ein weiteres Buch, das mir eine neue Perspektive eröffnete, war Entstellt von Amanda Leduc, das sich mit der Darstellung von Behinderung in Märchen beschäftigt. Ich fand es augenöffnend – besonders, weil ich aus einer Familie komme, in der Behinderungen den Alltag aller Familienmitglieder beeinflussten.
Viele Märchen erzählen vom Überwinden von Hindernissen – sei es ein Bösewicht, die Gesellschaft, eine Katastrophe oder der eigene Körper, der als Hürde dargestellt wird. Dieses Narrativ ist eindeutig ableistisch. Denn es erzählt den eigenen Körper als Problem, das es zu überwinden gilt, anstatt die Gesellschaft in die Verantwortung zu nehmen, Barrieren abzubauen, alle Menschen mitzudenken und echte Teilhabe zu ermöglichen. Stattdessen liegt es in den Märchen immer an den Protagonist:innen, die Hürden (ihre Körper) zu überwinden, um gesellschaftliche Akzeptanz zu erfahren. Das ist eine sehr ableistische – also eine behindertenfeindliche – Sichtweise.
Natürlich sind viele Märchen auch sexistisch, einige rassistisch. Und ja - das erfordert Einordnung und einen reflektierten Umgang.
Märchen sind ein Spiegel der Gesellschaft, aus der sie stammen. Sie waren Ausdruck ihrer Zeit, so wie es heute Romane oder Filme sind. Doch weil sie über Jahrhunderte mündlich überliefert wurden, haben sie sich immer wieder verändert. Mit der schriftlichen Fixierung – insbesondere durch die Brüder Grimm – wurden sie jedoch in einer bestimmten Form konserviert. Die Brüder Grimm bewahrten sie vor dem Vergessen, aber sie bewahrten sie auch vor Veränderung.
Dabei war es über Jahrhunderte selbstverständlich, dass Märchen sich wandelten – jede Generation passte sie an ihre Zeit an. Doch weil wir das geschriebene Wort als „unantastbares Original“ betrachten, haben wir uns selbst die Möglichkeit genommen, sie weiterzuentwickeln. Dabei wäre genau das notwendig. Märchen waren nie als starre, unveränderliche Geschichten gedacht – sie sind lebendige Erzählungen, die mit der Gesellschaft wachsen sollten und sich mit dem Menschen und seinen Ängsten und Sorgen auseinander setzten.
Märchen publizieren
Ich durfte durch meine Arbeit viele begnadete Autor:innen kennenlernen, darunter großartige Märchenerzähler:innen. Doch immer wieder höre ich, dass ihre märchenhaften Manuskripte von Verlagen abgelehnt werden – mit der Begründung, Märchen seien nicht mehr gefragt.
Aber was genau bedeutet das? Liegt es an der Kritik an Märchen – an ihren oft überholten Rollenbildern, an problematischen Stereotypen? Vermeiden Verlage sie, weil sie glauben, Märchen hätten keinen Platz mehr in der heutigen Buchlandschaft? Oder ist es schlicht eine Frage des Trends? Hat Fantasy Märchen als Genre abgelöst – oder ist die Ablehnung von Märchen vielleicht selbst ein Märchen?
Wie so oft tue ich mich mit verkürzten Antworten und einfachen Erklärungen schwer (lol, darum ist der Newsletter auch immer so lang). Auch die pauschale Ablehnung von Märchen erscheint mir zu kurz gedacht – selbst wenn ich die Kritik an ihnen gut nachvollziehen kann und sie für berechtigt halte.
Seit Langem beschäftigt mich diese Entwicklung, und ich möchte dazu anregen, Märchen nicht nur kritisch zu hinterfragen, sondern ihnen auch offen zu begegnen. Vielleicht liegt in ihrer heutigen Seltenheit als Publikation eine Chance – die Möglichkeit, sie wieder stärker mit ihrer ursprünglichen Erzähltradition zu verbinden: der mündlichen Überlieferung, dem freien, spontanen Erzählen.
Ich persönlich mag Märchen – nicht uneingeschränkt, aber mit tiefer Faszination. Ja, sie brauchen Einordnung, Reflexion und manchmal auch Veränderung. Doch all das sollte kein Totschlagargument sein, um Märchen gänzlich zu verwerfen.
Die entscheidende Frage ist also nicht: Märchen – ja oder nein?
Die eigentliche Frage sollte sein: Wie wollen wir sie weitergeben? Welche Werte und Perspektiven sollen sie heute vermitteln? Und in welcher Form sollen sie weiterleben?