Kunst als Zuflucht: Warum wir Kindern Kunst und Kultur näherbringen sollten

Kunst als Zuflucht

Aus dem Newsletterarchiv 2025 Ausgabe März | 06

Eigentlich soll dieser Newsletter ein gutes Gefühl vermitteln. Doch ich gebe zu: Worte der Zuversicht fallen mir gerade schwer. Stattdessen verliere ich mich in Arbeit, springe von Projekt zu Projekt – bloß nicht innehalten, bloß nichts an mich heranlassen.

Wie soll man auch unbeschwert die ersten Schneeglöckchen bewundern, wenn sich weltweit Superreiche und Tech-Giganten mit rechten Politikern verbünden? Wer achtet da noch auf Schneeglöckchen? Und wie freut man sich auf den Frühling, wenn jedes wärmere Grad auch von einer Krise erzählt, die wir längst aus den Augen verloren haben?

Und dann wurde mir klar: Genau hier liegt der Widerstand – im Wertschätzen und Verteidigen des Schönen und Tröstlichen.

Niemand gewinnt etwas durch allumfassende Hoffnungslosigkeit – und so fand ich in meiner Zerrissenheit das Thema für diesen März-Newsletter. Denn der März selbst fühlt sich an wie ein leises Versprechen, ein sanftes Erwachen aus der Dunkelheit. Er trägt die Ahnung von Wärme in sich, das erste Eis an der Eisdiele, den Gesang der Vögel am Morgen. Ein Hauch von Farbe, ein Flüstern des Lebens.

Ihr habt mich gefragt, wie man Kinder an die Kunst heranführt. Ich glaube, genau hier liegt die Antwort. Kunst ist Spiegel und Stimme, sie ist Kritik und Bildung. Doch in Zeiten, in denen Angst und Verunsicherung zu den Werkzeugen der Mächtigen werden, sind Kunst und Kultur noch etwas anderes: ein Zufluchtsort, ein Hoffnungsschimmer. Sie spenden Trost. Sie geben Zuversicht.

Gerade in politisch turbulenten Zeiten erinnert uns Kunst an etwas zutiefst Menschliches: unsere Fähigkeit zu fühlen, uns zu erinnern und uns eine andere, bessere Welt vorzustellen. In Diktaturen und unter repressiven Regimen war Kunst oft ein Mittel des Widerstands – sei es durch versteckte Botschaften, satirische Kritik oder das bloße Festhalten an Werten wie Freiheit und Menschlichkeit. Während autoritäre Systeme versuchten, Geschichte und Realität zu verzerren, hielten Schriftsteller:innen, Musiker:innen und Maler:innen die Erfahrungen der Verfolgten und Unterdrückten fest. Künstler:innen schufen Werke unter unmenschlichen Bedingungen, um Hoffnung zu bewahren oder um künftige Generationen zu warnen.

Aber all das ist natürlich zu abstrakt und komplex für Kinder und würde sie kaum mit der Begeisterung erfassen, die wir uns wünschen. Kunst und Kultur für Kinder entfalten sich über andere Zugänge – über Geschichten, Bilder und spielerische Erlebnisse. Für mich ist das Kinderbuch eines der schönsten Medien im früh Kunst und Kultur zu vermitteln, und doch fühle ich mich damit manchmal fast altmodisch. Noch nie zuvor war es so herausfordernd, Kinder für das Lesen zu begeistern oder sie für Kunst – auch Illustration – zu faszinieren.

Denn wir stehen in Konkurrenz zu digitalen Medien: iPads, YouTube, Filme, Serien und Spielkonsolen bieten ein schier unerschöpfliches Unterhaltungsangebot. Doch anstatt diese Medien zu verteufeln, sollten wir verstehen, warum sie Kinder so sehr ansprechen. Auch meine eigenen Kinder lesen nicht viel – nicht nur wegen ihrer Legasthenie, sondern auch, weil sie Geschichten lieber hören. Ich lese ihnen viel vor, und sie konsumieren Erzählungen als Hörbücher. Die Lust an Geschichten bleibt dabei ungebrochen – nur die Art, wie sie weitergegeben werden, verändert sich.

Und ich glaube, wir bringen Kinder nicht ins Museum oder zum Lesen mit dem Argument: „Weil es wichtig für deine Zukunft ist.“ Es ist unsere Aufgabe, Kunst und Geschichten zu schaffen, die Kinder begeistern, die sie dort abholen, wo sie sind. Die ihnen Freude bereiten – und sie so an Kunst und Kultur heranführen. 

Bei meinem Sohn waren es lange Zeit Filme, die ihn faszinierten – also begegneten wir ihm dort, wo er war. Wir schauten gemeinsam Filme, gingen ins Kino, sahen Making-ofs und Dokumentationen über Filmschaffende, besuchten das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt und erkundeten Sonderausstellungen zu Filmen. Weil ihn das interessierte. Wären es Comics gewesen, hätten wir dasselbe mit Comics gemacht: uns mit den Künstler:innen dahinter beschäftigt, Ausstellungen besucht, Bücher gelesen – und dabei neue Themen entdeckt, die ihn ebenfalls faszinierten. Denn das erster vage Interesse an Kultur und Kunst kann schon ein Wegbereiter sein Themen vorsichtig zu vertiefen. Oft hilft es die Menschen hinter den Werken genauer zu betrachten und zu verstehen was sie Antrieb und wie sie dachten um Kunst aus der Abstraktion zu holen. 

Während seiner Filmphase fand mein Sohn heraus, dass Bühnenbild ein Beruf ist. Er baute Kulissen und Requisiten für Filme nach, begann sogar eigene Drehbücher zu schreiben – und ja, auch zum Lesen brachte es ihn ein Stück weit. All das war eine Auseinandersetzung mit Kunst, die sich keinen Moment künstlich oder belehrend für ihn anfühlte oder ihn überforderte.

Erwachsene und Kinder teilen sich zwar denselben Alltag, doch echte, tiefgehende Begegnungen zwischen ihnen werden immer seltener.

Vieles läuft nebeneinander her, statt miteinander zu geschehen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die immense Belastung, die Eltern und Pädagog:innen heute schultern müssen – steigende Arbeitszeiten, ständige Erreichbarkeit und gesellschaftliche Anforderungen lassen immer weniger freie Zeit für bewusste gemeinsame Erlebnisse. Hinzu kommt, dass finanzielle Unsicherheiten und fehlende Ressourcen vielen Familien den Zugang zu kulturellen Angeboten erschweren. Doch es geht nicht nur um äußere Umstände: Auch gesellschaftliche Entwicklungen tragen dazu bei, dass Kinder immer stärker unter sich bleiben, während Erwachsene sie eher aus der Distanz begleiten, statt aktiv mit ihnen in den Austausch zu treten. Dabei geht es mir nicht darum, Schuld zuzuweisen – vielmehr ist es ein Plädoyer dafür, sich dieser Entwicklung bewusst zu werden und Räume zu schaffen, in denen Kinder und Erwachsene einander wirklich begegnen können.

Kunst kann ein solcher Ort sein. Ob durch Filme, Bücher, Musik oder gemeinsames Zeichnen – es geht nicht darum, zu belehren oder Wissen zu vermitteln, sondern darum, eine gemeinsame Erfahrung zu schaffen, die verbindet. Kinder spüren, wenn wir ihnen etwas nur aus pädagogischer Absicht anbieten. Sie merken, wenn Erwachsene Kunst oder Bücher predigen, aber selbst nicht leben. Doch wenn wir Kunst als etwas begreifen, das uns berührt, inspiriert und bereichert, dann kann sie genau das auch für Kinder sein – ein Ort der Begegnung, der Freude, der Neugier.

Mit meiner Mutter ging ich damals oft ins Museum – nicht, weil es „wichtig“ war, sondern weil sie selbst von einer Ausstellung begeistert war. Weil sie berührt vor Bildern stand oder zu Hause versuchte, ähnliche Farbwelten nachzuahmen. Weil sie Bücher und Geschichten mit so viel Leidenschaft las, dass sie mich mitriss.

Meine Mutter liebte Kunst – und sie lebte Kunst. Es war ihre Welt, und in dieser Welt trafen wir uns auf Augenhöhe. So wurde sie auch meine Welt. Nicht, weil sie mir etwas beibringen wollte, sondern weil Kunst und Geschichten ihr Trost spendete – und sie mir das offen und ehrlich zeigte.

Wir können bei uns selbst schauen: Was spendet uns Trost? Wo finden wir Zuflucht? Was gibt uns Zuversicht? Denn echte Faszination ist ansteckend. Natürlich weiß ich, dass das nicht in jedem Elternhaus möglich ist und nicht überall gleichermaßen stattfindet. Doch wenn wir Kunst als Auseinandersetzung mit Gesellschaft und ihren Werten begreifen, dann kann diese Begegnung medienübergreifend geschehen – in Büchern, Filmen, Musik, Museen oder einfach im gemeinsamen Entdecken.

Und ja, es ist auch eine Frage der Bildung. Diese Begegnung mit Kunst und Kultur muss nicht zwingend im Elternhaus stattfinden – sie kann und sollte ebenso in Schulen und kulturellen Institutionen Raum finden. Denn überall dort, wo Erwachsene Kindern mit echtem Interesse begegnen, entsteht die Möglichkeit, sie für etwas zu begeistern. Bildung geschieht nicht allein durch Lehrpläne, sondern durch inspirierende Vorbilder – und Kunst kann eine ebenso tröstliche wie ästhetische Bildung sein.

Ich merke, dass mich dieses Thema bewegt und ich gedanklich immer wieder in das große Ungerechtigkeitsdebakel abdrifte. Doch statt mich darin zu verlieren, möchte ich etwas Konkretes mit euch teilen: eine Auswahl an Büchern und Geschichten, die ich gerne mit meinen Kindern lese und die für mich einen wunderbaren Einstieg in Kunst und Kultur bieten. Entweder, weil die Bücher von Künstler:innen geschaffen wurden, weil sie Kunst thematisieren oder weil sie selbst ein Kunstwerk sind.

Für diese Liste musste ich eine Auswahl treffen – und das war nicht leicht. Ich hätte noch so viele weitere Bücher empfehlen können, aber die hebe ich mir einfach für die nächsten Newsletter auf.

 

Schönheit bedrängt mich bis zum Tod

Schönheit erbarme dich mein

Doch wenn ich heute sterben sollt

Lass mich dich sehn dabei.

Emily Dickinson